Lebenslauf von Giulio Castagnoli

Bild von Giulio Castagnoli Giulio Castagnoli, geboren am 22. November 1958 in Rom als Sohn der Physiker Carlo und Giuliana Cini. Die Familie übersiedelte 1961 nach Turin, wo Castagnoli 1973-83 am Conservatorio "Giuseppe Verdi" Klavier und Komposition studierte. Weitere Studien führten ihn 1983-86 zu Brian Ferneyhough an die Hochschule für Musik in Freiburg/Breisgau und 1985-87 zu Franco Donatoni an die Accademia di Santa Cecilia in Rom. Aus der einflussreichen Mentor-Schüler-Beziehung mit Luciano Berio entwickelte sich eine jahrzehntelange, bis zu dessen Tod währende Freundschaft.

1984 war er Stipendiat der 32. Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt. 1985 nahm er bei Klaus Huber an einem Kursus der Accademia Chigiana in Siena teil. Ebenfalls 1985 promovierte er an der Turiner Universität bei Giorgio Pestelli mit einer Dissertation über seinen Urgroßvater Edgardo Della Valle de Paz. Musicista tra Romanticismo e Liberty [E. D. V. d. P. Musiker zwischen Romantik und Art nouveau].

Erste Auszeichnungen erhielt er beim Internationalen Kompositionswettbewerb "Valentino Bucchi" in Rom 1982 für sein Klavierstück Qui canta conte Narcis ... (1982) und 1986 beim Streirischen Herbst in Graz für Uqbar. Trio d'archi per sette (sopra una canzone famosa) für Piccoloflöte, Bassklarinette, Schlagzeug, Klavier und Streichtrio (1984).

Seit 1984 lehrt Castagnoli am Conservatorio "G. Verdi" in Turin Kontrapunkt, Harmonielehre und Komposition. 1998/99 war er Stipendiat des Berliner Künstlerprogramms des DAAD.

Castagnoli komponierte Kammermusik und Orchesterstücke, aber auch elektronische Musik. Er hat in Turin an Projekten für Musiktheater in Zusammenarbeit mit dem Maler Ugo Nespolo mitgewirkt; mit dem Komponisten Sergio Liberovici entstanden u. a. Opern für Kinder wie z. B. Le ore e le lune für Sopran und vier Instrumente (Liberovici nach Shakespeare und E. Th. A. Hoffmann, 1983).

Über die Grenzen Italiens und Europas hinaus pflegt er Kontakte mit renommierten Ensembles, wie dem australischen Elision Ensemble (seit 1991), The Song Company (seit 2002), oder, auch durch seine Hinwendung zur asiatischen Musik, mit den "Chinese Music Virtuosi" in Hongkong (2002).

Ferneyhoughs Unterricht beeinflusste zwar Castagnolis Sensibilität für die Notation, doch blieben dessen Abstraktheit und kompositorische Virtuosität in den Arbeiten seines Schülers im Hintergrund. An Donatonis Musik faszinierte ihn die Körperlichkeit und Heiterkeit sowie die humanistische Thematik. Die Begegnung mit Giacinto Scelsi 1987, dessen Partituren ihm bereits seit 1982 bekannt waren, schärfte Castagnolis Wahrnehmung des einzelnen Klangs und der Struktur der Schwingungen. Gleichwohl gewann seit Anfang der 1990er Jahre die italienische Tradition, insbesondere die Musik der Renaissance und des Frühbarock für seine Befreiung hin zur Melodik eine ebenso große Bedeutung wie seine Studien asiatischer traditioneller Musikformen.

Literatur und Lyrik - insbesondere chinesische und japanische - bilden Castagnolis wichtigste Inspirationsquellen: Sei Haiku für Sopran und neun Instrumente (1989), Quattro Notturni für Streichquartett (nach Carlo Cignetti, 1990), Tre poesie T’ang für Klavier und zehn Insrumente (nach chinesischen Gedichten der T’ang-Zeit, 7.Jhdt.n.Chr., 1995) Castagnoli bezog sich aber auch auf Modelle der europäischen Musik sowie des Modern Jazz: auf Rossini (”L’inutil precauzione”. Aria del Cembalo für Piccoloflöte, Tenorsaxophon, Trompete und Cembalo, 1985), Scelsi (Klang. Omaggio a Giacinto Secelsi für 13 Streicher, 1986), Webern (Variazioni e tema sul IV dei ”Fünf Stücke für Orchester op. 10” di Anton Webern für Orchester mit Gitarre und Mandoline, 1991) sowie auf Thelonious Monk (Monk für Bassklarinette, 1991), Miles Davies (Miles für Bassklarinette und Violoncello, 1991) oder Chet Baker (Chet für Trompete, Percussion, Kontrabass, 2001)

Musikalische Zitate erscheinen immer bearbeitet; sie dienen - wie auch die Gedichte - als Ausgangspunkte für den Kompositionsprozess. Die Cinque Madrigali für elf Streicher (1990) wurden z. B. durch eine Petrarca-Strophe, ein Haiku, ein griechisches Distichon, ein Bild von Ugo Nespolo sowie durch den Klang eines indischen Instruments angeregt. Diese inneren Imaginationen werden im Vordergrund der Werke fast gegenständlich dargestellt, klangfarblich subtil, doch strukturell streng. Das klingende Resultat ist weit entfernt von Hubers sozialem Verantwortungsbewusstsein einerseits oder Scelsis spiritueller klanglicher Materialität andererseits.

In Uqbar. Trio per sette (sopra una canzone famosa) (1984) – den Titel entlehnte Castagnoli der Novelle ”Tlön, Uqbar, Orbis Tertius” aus ”Ficciones” von Jorge Luis Borges – gibt es eine Polarität in der Dynamik und der musikalischen Gestik, die wie zwei Seiten einer Medaille den Doppelaspekt des behandelten Sujets meint. Diese komplementäre Klangfarbengestaltung führt zu dialogischen und zum Teil sogar provokativen Spannungszuständen auch in den Cinque Madrigali sowie den Canti für Orchester (1991). In Canti benutzt Castagnoli die Verfremdungseffekte der Streichinstrumente für ein dramatisches Ziel: Die verschiedenen instrumentalen Figuren, die weniger in konkreten Tonhöhenverläufen als vielmehr durch Klangfarben und Rhythmik gestaltet sind, werden gleichsam zu Personen eines Dramas. Ähnliches gilt z.B. auch für Cloches blanches et noires (1992-3).

Castagnolis Interpretation der instrumentalen Klangeigenschaften gründen sich auf den physikalischen Gegebenheiten und der jeweiligen Kulturgeschichte der Instrumente. Flageoletts und Multiphonics sind für Castagnoli nicht Verfremdungen, sondern der Ausdruck ihres eigentlichen Wesens, sowohl im technischen als auch im kulturhistorischen Sinn und somit Anknüpfungspunkt zu den Musiktraditionen des fernen und des nahen Ostens und Indiens.

Castagnolis Entwicklung seit den 1980er Jahren liest sich wie eine logische Assoziationskette: Von der Klangerforschung zu traditionellen Musikulturen zu alter/neuer Melodik zurück zur Integration westlicher Tonalität und damit zu der Beherrschung eines ungewöhnlich breiten Spektrums an musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten.

In den asiatisch inspirierten Werken wie Fioriture I & II für Guqin (chinesische Zither bei I) bzw. Bratsche (bei II) und Ensemble (1996/97), Madrigale guerriero e amoroso für sechs Madrigalsänger und sechs chinesische Instrumente (nach Petrarca, 2002) wird Castagnolis typische Klanglichkeit überraschenderweise zur Basis klassischer (chinesischer, aber auch italienischer) Melodik und formuliert so einen erweiterten Traditionsbegriff, der es ihm gestattet, als Italiener z.B. chinesische Musik zu schreiben.

In den Werken seit 2000 macht sich diese Freiheit auch in neomodalischer Harmonik bemerkbar, in die fernöstliche Elemente wie Pentatonik und volkstümliche Benutzung des Schlagwerks verwickelt sind: Konzert für Violoncello und DoppelOrchester (2002). Eine Hommage an Bartók ist das Konzert für Klavier und Orchester (2003).



Beitrag von Giulio Castagnoli, Luciana Galliano und Matthias Entreß
Letzte Änderung am 5. November 2005