Lebenslauf von Carl Heinrich Carsten Reinecke

Bild von Carl Heinrich Carsten Reinecke "Ihre Compositionen haben mir viele Freude gemacht; Sie haben ganz entschiedenes Talent zur Composition." So urteilte Felix Mendelssohn Bartholdy 1843 über den 19jährigen Pianisten Carl Reinecke, der ihm einige Werke zur Prüfung vorgelegt hatte, um Klarheit über seinen weiteren Lebensweg zu gewinnen. Ein Jahr später lernte Reinecke in Leipzig Robert Schumann kennen und erwarb dessen Vertrauen, wie aus einem Brief vom 30. Juni 1848, in dem er ihm für Klavierbearbeitungen seiner Lieder dankt, hervorgeht: "... Im Grunde, wie Sie auch vermuthen, bin ich kein Freund von Liedertranscriptionen, und die Liszt'schen sind mir zum Theil ein wahrer Grauel. Unter Ihren Händen aber, lieber Hr. Reinecke, fühl ich mich ganz wohl, und dies kämmt daher, weil Sie mich verstehen, wie Wenige ..." Schumanns Wertschätzung für den jungen Kollegen zeigte sich auch 1850 in der Widmung seiner "Vier Fugen op. 72". Reinecke berichtet in seinen Erinnerungen, dass Schumann im Juli 1851 im Scherz über ihn gesagt habe: "Oh, der weiß meine Sachen schon auswendig ehe ich sie componirt habe". Nachdem er bereits nach einer einzigen Probe zu Schumanns "Der Rose Pilgerfahrt" dem für die Uraufführung vorgesehenen Tenor Stellen aus diesem Werk auswendig vorgesungen hatte, um dessen Interpretation zu korrigieren.

Dass sich Reineckes künstlerischer Werdegang unter den wohlwollenden Augen Mendelssohns und Schumanns vollzog, prägte sein ganzes Leben und Schaffen und ließ ihn, der seine Mentoren und Vorbilder um mehr als 50 Jahre überleben sollte, zu einem treuen Hüter ihrer musikalischen Wertvorstellungen werden. Gegenüber seinem Freund Ferdinand Hiller äußerte er einmal: "Dass mir keine geniale, originale Erfindung zu Gebote steht, wissen Sie..." und an anderer Stelle meinte er sogar, er wolle "nicht dagegen opponieren, wenn man mich einen Epigonen nennt". Seine handwerkliche Souveränität wie sein unerschöpflicher Einfallsreichtum heben sein Schaffen trotz des gewaltigen Umfangs (288 Werke mit Opuszahl, unzählige Bearbeitungen fremder Kompositionen) dennoch turmhoch über den Durchschnitt der Zeit.

Carl Reinecke wurde am 23. Juni 1824, also im gleichen Jahr wie Anton Bruckner, im damals dänischen Altona als Sohn eines Musiklehrers geboren. Schon als 7jähriger begann er zu komponieren, als 11jähriger trat er zum ersten Mal öffentlich als Pianist auf. Auf einer Konzertreise lernte er 1843 in Kiel den berühmten Violinvirtuosen Heinrich Wilhelm Ernst kennen, der ihn als Begleiter engagierte und mit ihm in Kopenhagen konzertierte. Dort erhielt er das erhoffte Stipendium vom dänischen König, so dass er nach Leipzig übersiedeln konnte, wo er bereits in der Saison 1843/44 mehrmals erfolgreich als Solist im Gewandhaus spielte. Nach einer ausgedehnten Konzertreise, die ihn bis nach Danzig und Riga führte, kehrte er 1846 nach Kopenhagen zurück und wurde dort Hofpianist. Der deutsch-dänische Krieg von 1848 um Schleswig-Holstein ließ ihn diese Stellung aufgeben; er konzertierte zunächst wieder in Leipzig, erregte bei einem Besuch in Weimar das Interesse Franz Liszts und wirkte dann in Bremen und Paris, wo er auf Liszts ausdrücklichen Wunsch dessen Töchter Blandine und Cosima unterrichtete und in einem von Hector Berlioz geleiteten Konzert als Solist auftrat. 1851 bis 1854 lehrte er am Kölner Konservatorium Klavier und Komposition; zu seinen Schülern zählte damals auch Max Bruch. Als städtischer Musikdirektor in Barmen entfaltete er von 1854 bis 1859 eine rege und erfolgreiche Tätigkeit, die zur Hebung des musikalischen Niveaus dieser Stadt beitrug. Nach einem zehnmonatigen Intermezzo als Universitätsmusikdirektor und Dirigent der Singakademie in Breslau wurde er 1860 nach Leipzig berufen, wo er 35 Jahre lang bis zu seiner in unwürdiger Form erfolgten Pensionierung im Jahre 1895 die Gewandhauskonzerte leitete. Sein Nachfolger in diesem Amt wurde Arthur Nikisch. Daneben unterrichtete er an dem 1843 von Mendelssohn gegründeten Konservatorium Klavier, Ensemblespiel und Komposition bis zum Jahre 1902. Dieses Wirken im Zentrum des deutschen Musiklebens machte Reinecke zu einer einflussreichen und geachteten Persönlichkeit; unter seinen Schülern befanden sich so berühmte Namen wie Edvard Grieg, Carl Muck, Hugo Riemann, Christian Sinding, Arthur Sullivan, der englische Organist Basil Harwood und Felix von Weingartner. Seine in den Grundzügen konservative Programmgestaltung mit der Bevorzugung der Klassiker und Romantiker traditioneller Prägung und seine (allerdings nie schroff geäußerte) Ablehnung der "Neudeutschen" um Wagner und Liszt trugen ihm viele Anfeindungen von dieser Seite ein. Sein besonderer Einsatz galt den lange vernachlässigten Klavierkonzerten Mozarts, die er meisterhaft spielte und für die er Kadenzen schrieb, und den Klaviersonaten Beethovens; zu beiden Themen äußerte er sich auch als gewandter Schriftsteller in einst vielbeachteten Büchern. Bis an sein Lebensende blieb er schöpferisch tätig, aber auch seine letzten Werke lassen keinerlei Zeichen von nachlassender geistiger Frische erkennen. Carl Reinecke starb 85jährig am 10. März 1910 in Leipzig.

Die Musikgeschichte einer ganzen Epoche spiegelt sich in faszinierender Weise im langen Leben und Wirken dieses Meisters wider, wie einige Daten belegen sollen: der 19jährige spielte in Leipzig Mendelssohns "Serenade und Allegro giocioso op. 43" in Anwesenheit des Komponisten, der 27jährige widmete Schumann sein Klaviertrio op. 38, der 44 jährige leitete am 18. Februar 1869 die erste vollständige Aufführung des "Deutschen Requiems" von Johannes Brahms, dem 61jährigen widmete der junge Ferruccio Busoni seine Chopin-Variationen op. 22 "in Verehrung" und der 76jährige veröffentlichte 1900 seine bereits zitierten Erinnerungen an Liszt, Ernst, Schumann, Jenny Lind, Wilhelmine Schröder-Devrient, Ferdinand Thieriot, Brahms und Mendelssohn unter dem Titel "und manche lieben Schatten steigen auf", eines der aufschlussreichsten und liebenswertesten Dokumente zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. Zu Lebzeiten wurde bereits seine ausführliche Monographie geschrieben von seinem Freund, dem Musikkritiker Wilhelm Joseph von Wasielewski (Reprint Zimmermann, Frankfurt, 1997). Reinecke hat als Komponist keine musikalische Gattung ausgespart: Seine bedeutendsten Werke sind das 3. Klavierkonzert Opus 144 in C-Dur, das 1. Klavierkonzert Opus 72 in fis-moll, die drei Sinfonien (Op. 79 A-Dur, Op. 134 c-moll "Hakon Jarl", Op. 227 g-moll), die Flötensonate Op.167 "Undine", das Harfenkonzert Op. 182, e-moll, das Flötenkonzert Op. 283, D-Dur, das Oratorium Op.73, "Belsazar", sowie unzählige Klavier- und Kammermusikwerke, Vocalwerke, worunter vor allem die Kinderlieder Berühmtheit erlangten sowie große Bühnenwerke. Ein vollständiges Werkverzeichnis von Carl Reinecke findet sich in dem Buch von Dr. Katrin Seidel (von Bockel Verlag Hamburg, 1998, leider vergriffen).

Die meisten Autographen Reineckes sind im Kriege verloren gegangen. Erstdrucke befinden sich in den Staatsbibliotheken zu Berlin, Kopenhagen, Boston und London (hier auch einige Autographen), sowie in der Musiksammlung der Landesbibliothek Schleswig-Holstein. Neu- bzw. Nachdrucke erschienen bei Breitkopf&Härtel, Zimmermann, Carus, Schuberth, Albis, Syrinx und Kalmus.

--- Walter Zielke
Letzte Änderung am 1. Mai 2004