Camille Saint-Saëns (1835-1921)

Hélène

(Helena)

Allgemeine Angaben zur Oper:

Titel: Hélène
Titel deutsch: Helena
Entstehungszeit: 1903
Uraufführung: 18. Februar 1904 in Monte Carlo (Opéra de Monaco)
Besetzung: Soli, Chor und Orchester
Spieldauer: ca. 60 Minuten
Erstdruck: Paris: A. Durand & Fils, 1904
Bemerkung: Camille Saint-Saëns und Jacques Offenbach mochten sich nicht leiden. Der Erstgenannte verübelte dem Operettenkomponisten seine „La Belle Hélène“, weil es nach seiner Ansicht an dem nötigen Respekt vor der griechischen Antike gefehlt habe. Man kann dem Schöpfer der „Hélène“ durchaus einräumen, dass er den gewaltigen Stoff der Ilias geschickt modellierte und reduzierte. Verhindern konnte er die unfreiwillige Komik des trivialen Liebesduettes am Schluss der sechsten Szene, die gewiss zu einem boshaften Lächeln reizt, allerdings nicht. Den Erfolg der Uraufführung in Monte Carlo darf man mit der Tatsache bewerten, dass die australische Sängerin Nelly Melba (1861-1931) die Titelpartie übernahm.

Zur Oper:

Art: Poème Lyrique in einem Akt und sieben Szenen
Libretto: Camille Saint-Saëns
Sprache: französisch
Ort: im antiken Griechenland
Zeit: zu mythischer Zeit

Personen:

Pâris: ein Jüngling aus Troja (Tenor)
Hélène: eine Schönheit aus Sparta (Sopran)
Venus: Göttin der Liebe, des erotischen Verlangens und der Schönheit (Sopran)
Pallas: Göttin der Weisheit, der Strategie und des Kampfes (Alt)

Handlung:

1. Szene:

Im Königspalast von Sparta findet ein Festgelage zu Ehren des Besuchers aus Troja statt. Die Festhalle ist hell erleuchtet und fröhliche Menschen singen und tanzen, dass der Lärm weit in die Nacht hinaus schallt.

„Glorie au fils de Priam, glorie au héros charmant“ jubeln die Spartaner und artig kommt es von Pâris zurück „Glorie au roi Ménélas!“ Der noblen Königin mit den lilienweißen Armen wird ebenfalls gehuldigt. Die Ehre gilt Hélène von Sparta.

2. Szene:

Hélène selbst ist nicht anwesend und wird von der Gesellschaft vermisst. Den unerwünschten Trubel um ihre Person hat sie hinter sich gelassen. Auf ein Felsenriff geflüchtet, sinkt sie nun erschöpft zusammen.

Wohin soll sie sich begeben, um der Liebe zu entfliehen? Der perfide Amor soll sie in Ruhe lassen und Pâris, der grauenvolle Priamide, soll auf sie verzichten. Hélène bittet inständig darum! Furcht hat ihre Schritte zu dieser verlassenen Küste gelenkt. Ihr zerschrammter Fuß, ungewohnt solcher Strapazen, hat sie bis hierher getragen. Jetzt kann die Königin nicht mehr, denn ein Wadenkrampf behindert ihre Bewegungsfreiheit. Alles sieht die Geschundene verloren. Die Flucht ist hier zu Ende und auf Hilfe kann sie vergeblich warten. Von Ängsten gejagt ist sie wie ein wildes Tier durch den Wald gerannt. Sie fühlt die Wunde des Wurfspießes, die Amor ihrem Herzen zugefügte. Sie weiß es, dass die Götter beabsichtigen, sie zu verwirren. Vom hohen Himmel möge Zeus einen Blitz schleudern und die Rastlose niederstrecken, damit endlich Ruhe ist. Fahle Schatten wandern an den Ufern durch die Tiefe der Nacht. Verbotene Liebe hat ihr Gemüt erobert.

Unbelastet lebte sie in Ehren, angebetet von einem großzügigem Gatten. Heiterkeit und Frieden genoss sie in der Sicherheit der Wände ihres Palastes. Nun befällt sie Unglück, welches aus heiterem Himmel kommt. Dieser Jüngling aus Troja, stattlich wie ein Gott, ist darauf versessen, ihre Schönheit einzufangen und auszubeuten. Sie solle Hellas den Rücken kehren und ihn in seine Heimatstadt Troja begleiten, forderte der Herrliche sie auf. Hélène erwog trotz heftiger Gewissensbisse, sein Angebot anzunehmen. Sein schönes Gesicht sieht sie vor ihrem geistigen Auge. Unvorhergesehene Leiden martern ihr Hirn. Sie brennt in Leidenschaft und vergeht gleichzeitig vor Scham. Fatale Schönheit, einst ihr Stolz, nun flucht sie ihr. Ihr ist es gleich, wenn Aphrodites Zorn nach ihr greift? Im Hades fließt der Fluss des Vergessens. In Lethes Wasser möchte sie eintauchen, um für immer die Erinnerung zu verlieren an das, was sie liebte. Zurückholen möchte sie die Unschuld einer ungetrübten Kindheit, zurückerobern für immer die Frische dieser frühen Tage.

In einem Suizid sieht sie die Hilfe, die sie braucht, um die Liebe, die sie plagt, zu überwinden. Nach den Dioskuren, den ans Firmament entrückten Brüdern Kastor und Pollux, verspürt Hélène plötzlich eine ungeahnte Sehnsucht. Der Sohn des Priam plant Hélènes Entführung, aber in der Tiefe des Meeres wird sein Charme sie nicht erreichen. Ein Blick ins Wasser und die Lebensmüde verkündet: Zeus mein Vater „Je vien à toi - ich komme zu dir.“ Um einen schnellen, sauberen Tod bittet Hélène. Die kühlen Fluten werden sie zukünftig vor dem unersättlichen Amor schützen. In der Absicht, sich von den Klippen zu stürzen, schleppt Hélène sich mühsam ein paar Schritte voran, um nach einem geeigneten Absprung Ausschau zu halten.

3. Szene:

Venus erscheint im Dämmerlicht über dem Meer; aus Nymphen und Amoretten besteht ihr Gefolge. Die Lebensmüde fährt sie harsch an, dass es Tollheit sei, der Göttin Aphrodite zu widerstehen. Will Hélène sich ihr verhasst machen? Nicht einmal der mächtige Jupiter wagt es, ihr Widerstand entgegenzusetzen. Es sei keine gute Idee, sich mit dem Kopf voran in den Tod zu stürzen. Leben wird sie für die Liebe - frei von Reue. Die Menschen der Zukunft werden sich an die kompromisslose Hélène von Troja erinnern und sie bewundern. Die Zerknirschte entgegnet, dass ihr daran nichts liegt, denn sie möchte lieber keusch und zufrieden in ihrem heimatlichen Palast leben und Wolle spinnen.

Nein, das Schicksal hat andere Lebensinhalte vorgesehen. Weshalb sperrt sie sich dagegen, den Pâris zu lieben? Sie tut es doch bereits! Sie weiß doch, dass ihre Person in einem Schönheitswettbewerb als Preis ausgesetzt war. Pâris hat ihn gewonnen und sie selbst möchte sich von den Menschen nichts als wortbrüchige Spielverderberin verspotten lassen. Die Göttin stehe bei dem trojanischen Prinzen im Wort und Hélène habe zu gehorchen und ihm in Liebe zu folgen. So steht es im Buch des Lebens geschrieben und die Geschichte ihrer unvergänglichen Liebe wird von den Bildhauern der Welt in der Sprache ihrer Skulpturen festgehalten. Hélène verhält sich widerspenstig und erklärt, dass sie den Priamiden hasse. Doch Venus beschwichtigt die Aufbrausende, dass es nicht Tugendhaftigkeit, sondern die Furcht der Antrieb sei, sich ihrem Schicksal zu widersetzen.

Nymphen und Amoretten besitzen nur einen bescheidenen Intelligenzquotienten, glauben aber, zur Sache auch ein paar Floskeln beitragen zu müssen. Die Gruppe unterstützt ihre Herrin: „Sur les roses - tu reposes - Volupté, par tes charmes - tu desarmes - la beauté!“ Venus ist es Leid, noch länger zu argumentieren, und befiehlt Hélène, dass sie hier bei den einsamen Felsen warten soll, denn der Sohn des Priam wird sich hier einfinden. Sie solle nicht flüchten und sich der Situation anpassen, so wie sie sich ergibt, denn ihr Verehrer glühe bereits vor Begierde. Die Nymphen schmeicheln: Das Lächeln der Göttin mache trunken, der Olymp huldige ihr und die Menschen auch. Liebe bedeute Leben und Tod, gleichzeitig Glückseligkeit und Tränen.

Venus kann es nicht lassen, für sich ein bisschen Werbung zu mache, denn Klappern gehört zum Handwerk. Ihrer Macht könne niemand widerstehen, denn die Keuschheit lässt alle Wachsamkeit fallen, wenn sie es befiehlt. Um Tugend bemühen sich die Menschen vergeblich, wenn sie erst gestorben ist, greift die Bindung der Liebe. Die Nymphen sind entzückt. Tatsache sei, dass Venus von allen Frauen die schönste sei und nur die Törichten sich einbilden, ihr das Wasser reichen zu können. Hélène soll sich dessen bewusst sein und das Knie vor ihr beugen, wie die Nymphen es vormachen. Später, obgleich durch das Schicksal verwundet, wird sie in ihr Heimatland zurückkehren und noch viele schöne Tage erleben. Diese tröstenden Worte gibt sie ihrem Werkzeug noch mit auf den Weg. Bevor sie mit ihrem Tross in den Wolken verschwindet.

4. Szene:

Pâris ruft nach ihr: „Hélène!“ Die Göttin hat gesiegt. Nun ist sie verloren. Ah! das ist sein Leben. Pâris fühlt sich wie neu geboren. Er sieht sie wieder. Aber weit weg von seinem Herzen und von seinen Armen. Doch sie flieht vor seiner Liebe. Weshalb meidet sie ihn? Sind es die Torturen des Liebesgottes, wenn er jemanden quälen will? Er soll nichts sagen, fleht Hélène. Das Geschrei ihrer übertriebenen Sittsamkeit wird er durch Küsse ersticken. Täuscht der Liebeswerber sich etwa? Sein Opfer schreit, weil es in Ruhe gelassen werden will? Hélène hasse ihn! Der Priamide nimmt ihr Abwehrverhalten nicht ernst und glaubt, dass die Worte nicht mit den Gedanken übereinstimmen. Glaubt der unbedachte Mann etwa, die Tochter des Zeus würde lügen? Ihre Gedanken sind umschlungen mit ihrer Rede so wie der Efeu sich am Felsen festhält und die Weinrebe an der Ulme hochklettert.

Pâris holt zur Liebeserklärung aus. „Ah ton regard est beau...“ Wunderschön seien ihre Augen, wenn Ärger ihre Nüstern zum Flackern bringen. Sobald sie ihn ansieht, wird ihre Stirn schamrot, und die Meeresbrise bringe ihre Frisur durcheinander. Sie soll sich endlich beruhigen und betrachten, wie er sie auf Knien anhimmelt. Schon zum wiederholten Male erzählt er der Spröden, wie mächtig die Liebe in ihm wütet. Als er sie das erste Mal sah, pflückte ihre süße Hand am Berghang Wildrosen. Er sah es und von diesem Augenblick an, war es um ihn geschehen. Bevor er ihre Schönheit zu Gesicht bekam, hatte er kein Konzept, um der Macht der Liebe zu begegnen. Erst jetzt erkennt er ihre tödliche Kraft. Sein Herz sei verwundet und es suche nun nach Abhilfe. Sie soll aufpassen! Das bezwungene Herz fordere mehr als die Schönheit einer Königin - sein Herz will ihre Liebe!

Doch Hélène will dem edlen Ménélas die Treue halten. Zudem pocht sie auf ihren Stellenwert: Sie sei die Tochter eines Gottes und eine Königin. Pâris soll gefälligst vor ihr flüchten. Er denkt nicht dran, sondern quittiert ihre Ablehnung mit einem salbungsvollen Redeschwall. „Tochter der Götter, wundersame Frau und unvergleichliche Königin. Ist dieser Platz hier angemessen für deine Anwesenheit? Ist Sparta alles, was du in deinem Leben gesehen hast? Ach, sie muss erst einmal das stolze Land der Trojaner gesehen haben, seine Flüsse, seine Wälder und seine weiten Horizonte. Die reiche Ernte ihrer Äcker garantiert Überfluss für alle Bürger. Priams herrliche Paläste und die vergoldeten Dächer werden sie in Staunen versetzen. Die hohen Wälle, die den königlichen Hof schützen, sind mit Bronze beschlagen und schöne Statuen schmücken die Plätze. Noch prachtvoller sind die Teppiche, und die Betten, unsere Liebe erwartend, sind aus Elfenbein geschnitzt.“

Ihre Augen glänzen vor Bewunderung, doch weibliche Taktik verbietet ihr, zu artikulieren, was in ihr vorgeht. Hier sei sie Königin in ihrem Palast auf dem Höhepunkt der Macht. Hier ist der Platz, wo sie bleiben wird - für sich selbst und für Ménélas, verteidigt sich Hélène.

Liebe, weiß sie überhaupt was das ist, will Pâris wissen? Venus selbst hat ihn in der höchsten Kunst der Liebe unterwiesen. Sie soll mit ihm kommen und er wird ihr alles vorführen, was er kann. Denkt sie etwa, dass sie die Liebe bereits kennt? Hélène schweigt. Wenn er wüsste, wie der Sturm in ihrem Herzen tobt und sie in Versuchung führt, die Götter zu verhöhnen. Dafür verflucht sie Venus und ist bereit, ihr Trotz zu bieten. Doch dann wandelt sich plötzlich ihr Sinn: Für die Liebe sei sie bereit, Die unbarmherzige Göttin soll ihr Opfer in Tränen aufgelöst vor sich sehen. Will sie ihn täuschen? Vorsorglich fragt Pâris zurück, weil er dem abrupten Sinneswandel nicht so ganz traut.

Ja, sie habe ihn bisher angelogen, sie, die Tochter eines Gottes! Welcher Blitz kann den Himmel erleuchten, denn derjenige, den sie liebt, ist nicht ihr Gemahl. Es ist nicht der himmlische Ménélas, bekennt Hélène, er, der mutige Pâris, sei es „Mon époux, ce n'est pas le divin Ménélas. C'est toi!“ Ach, ihr Götter kann euer ewiges Leben in all seiner Herrlichkeit diesen wundersamen Moment eigentlich nachempfinden?

Hélène ist unschlüssig, was sie nach diesem Geständnis empfinden soll: Glück oder Schmerz? „Aveu cruel! O bonheur douloureux!“ Der holde Knabe lockt, dass sich alles finden wird. Zwischen ihre Familie und sich selbst wollen sie jetzt das weite Meer setzen. Zur Flucht bleibt nur wenig Zeit. „Le temps nous presse, viens! Fuyons!“

Hélène befindet sich in Bedrängnis und weiß nicht, wie sie sich entscheiden soll. Ihr himmlischer Vater soll sich ihr Unglück betrachten und sie vor sich selbst schützen.

5. Szene:

Der Himmel verdunkelt sich und ein plötzlicher Donnerschlag veranlasst Pallas Athene zu erscheinen, glühend in der Dunkelheit, umgeben von einem fahlen Licht.

Pallas erklärt der edlen Schwester, dass ihr Vater sie geschickt und beauftragt habe, ihr Gebet zu beantworten. Verknüpft sei ihr Schicksal mit dem Leben des jungen trojanischen Prinzen. Schaurig wird es diesem ergehen, wenn er von seinen Ambitionen nicht lassen kann. Ein grausames Schicksal bleibt ihm nur dann erspart, wenn er von seinen unehrenhaften Gelüsten Abstand nimmt.

Pâris hat mitgehört und erklärt, dass er es vorzieht, die Dunkelheit des Todes zu akzeptieren, als Hélène zu verlieren. Er wird Zeus nicht gehorchen, trotz er. Pallas soll es dem Göttervater ausrichten: „A Zeus je n'obéirai pas!“ Ganz schön frech, der Kleine!

Pallas rückt seine Überheblichkeit zurecht und fordert ihn auf, gut aufzupassen, denn ihm wird sie das Mysterium der Zukunft enthüllen. Unglück, in Beschaffenheit und Zusammensetzung bisher unbekannt auf Erden, wird niedergehen auf sein Land und seinen mächtigen König niederschmettern. Den angreifenden Griechen, erzürnt von des Prinzen Beleidigung, werden die Rückkehr Hélènes kategorisch verlangen. Ihre Schiffe werden die Oberfläche des Meeres bedecken und nach zehn Jahren gnadenloser Kämpfe werden die Griechen schließlich die Stadt erobern. Schau zu dem Palast und den lichterloh brennenden Türmen! Beobachte das fürchterliche Gemetzel. Oh entsetzliche Tragödie! Die Kehle wird König Priamus durchgeschnitten und der Kopf in das Blut seiner Söhne getaucht. Der Opernchor entsetzt sich und lässt einen anhaltenden Klagelaut vernehmen. Weder seine Waffen, noch sein Mut haben das Volk geschützt, welches jetzt seiner Vernichtung zu entfliehen sucht. Tränen der Wut, Schreie des Schreckens und des Grauens mischen sich mit dem Jubel der Sieger. Akustisch vermittelt Pallas das Wehgeschrei der Trojaner. Die Vision des brennenden Ilion verblasst und verschwindet langsam.

Pallas höhnt: „Toi-même, en la fleur des années, tu subiras les sombres destinées.“ Und er, wird er sein dunkles Schicksal annehmen? Wer auch immer aggressiv die Stirn bietet, dem wird Zeus sein Los bestimmen. „Lass Hélène zu den Griechen zurückkehren, zum edlen Ménélas. Nach Troja, gehe zurück, allein“ sind ihre mahnenden Worte. Trotzig missachtet Pâris den Rat der hellsichtigen Göttin. Zeus soll seine Blitze schleudern, seinen sterblichen Körper möge er zerbrechen und ihn zu Staub werden lassen. Aber kann er auch die unsterbliche Liebe aus seiner anbetenden Seele reißen. Ilion erstrahlt in der Sonne, möge es verlöschen in ihrer Flamme. Sein Land, seinen Vater und seine Brüder - mögen sie alle untergehen, selbst wenn er stirbt und verzweifelt. Seine Liebe wird ihm folgen in den ewigen Schlaf. Gegen so viel Uneinsichtigkeit kommt die Göttin nicht an und entscheidet, dass er seinen Weg gehen solle, wenn nichts ihn aufhalten kann. Sein bitteres Schicksal wird er erleiden müssen. „Va vers l'amour! Va vers la mort!“

6. Szene:

Der Tag bricht an. Hélène fragt, ob es sein kann, dass er sein Leben für sie opfern will. Hat er den Mut, dem Ménélas den Anblick ihrer Schönheit zu rauben? Wird er bereit sein, heiligste Schwüre zu brechen, dem edlen Vater die Stirn bieten, der ehrwürdigen Mutter Schmerz bereiten und sich in Opposition zu all seinen Brüdern zu stellen. Das Volk wird ihm fluchen und ihm das Unglück, welches Ilion in den Staub werfen wird, anlasten. Will er einen Krieg entfesseln ohne Furcht vor den ausufernden Schrecken einer Schlacht? Das heiße Blut in seinen Adern in Verbindung mit dem Wagnis einer neuen Liebe, die mächtiger ist als der Tod und die Götter, lässt den namenlosen Schrecken und das unentrinnbare Chaos sich voll entfalten.

Den Lauf der Dinge kann Hélène nicht ändern. So soll es denn geschehen. Verbunden sei sie mit ihm im Verbrechen und sie wird sich absetzen, wenn alle Schlachten geschlagen sind. In dieser Zeit wird sie ihm all ihre Liebe geben - ihren Körper und ihre Seele. Alles gehört dem Eroberer, dem Liebsten - nichts hält sie für sich zurück. Später wird sie das Leben leben, welches das Schicksal ihr gibt - im Palast ihres alles verzeihenden Gatten, mit ihren Kindern und den tiefen Narben der Erinnerung.

Von den Gedanken, die ihr Hirn martern, ahnt der Liebste nichts. Pâris drängt: „Komm, lasse uns über über das ruhige Meer segeln - hin zu den angenehmen Zerstreuungen Asiens, umschmeichelt von Küssen und den Annehmlichkeiten der Überfahrt.“

Hélène geht davon aus, dass Zeus aus Liebe zu seiner Tochter wilde Stürme hoch über den Wolken zurückhalten wird, damit eine angenehme Überfahrt gesichert ist. Ihre Gedanken waren falsch, als sie dachte, sie könne Eros besiegen. Nun muss sie ihren Hals hinhalten und seinem Willen zur Verfügung stehen. Der Gott hat sie besiegt. Eros hat sich des Liebsten Gesicht ausgeliehen, die Augen sowie Figur und Stimme. Oh nein, es war Pâris, dessen Charme sie erobert hat, und nicht die Macht des Liebesgottes. Ihr Stolz hat sich zurückgezogen und unbekümmert fallen die Liebenden sich in die Arme.

Das längst fällige Liebesduett kündigt sich an - auf den Tiefsinn folgt der Schwachsinn: „Deine Augen scheinen wie Sterne am nächtlichen Himmel. Das Parfüm Deiner Schönheit füllt mein Herz. Die Götter haben dich geformt als Ideal der Schönheit. Venus würde deine triumphale Grazie beneiden. Dein Körper ist noch weißer als das Tageslicht. Die Tochter Zeus' habe mit der trügerischen Berührung ihrer Lippen, ihn für immer versklavt.“

Es geht noch weiter: Hélène widerspricht und behauptet, dass sie die Sklavin sei. Sie vergaß ihren noblen Schwur und begegnet dem bitterem Hohn ihrer Freunde, weil sie bereit war, ihm quer über das Meer zu folgen. Ihre Seele sei bezaubert von seiner Seele. Sie komme sich vor wie eine erschrockene Hirschkuh, die den Löwen anschaut, während er ihren Tod vorbereite. Er soll sie auf den Arm nehmen und nach Ilion tragen. Die Liebenden kommen mit ihren Versen nicht zu Ende und schmachten weiter, doch wir brechen ab.

7. Szene:

„Viens, ver l'Asie en chanteresse
Voguons sur les flots a paisés
Bercés par la double caresse
Des Zéphyres et des baisers!“

Letzte Änderung am 1. Januar 2012
Beitrag von Engelbert Hellen

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