Lebenslauf von Hildegard von Bingen

Bild von Hildegard von Bingen Hildegard von Bingen ist eine der großen Persönlichkeiten des europäischen Mittelalters, der Aufmerksamkeit als einer der wichtigen Denkerinnen, Mystikerinnen und Künstlerinnen der westlichen Geschichte gebührt. Sie wurde 1098 in der Nähe von Bermersheim geboren, in der weiblichen Klausur des Benediktinerklosters Disibodenberg erzogen, und mit 15 Jahren zur Nonne geweiht.

Ihr eigenes Musikwerk konzentriert sich auch ausschließlich auf den liturgischen Choral. Hildegard nennt ihre Sammlung, die 65 Antiphonen, Responsorien, Hymnen und Sequenzen für die Stundengebete und 9 Gesänge für die Messe enthält, Symphonia armoniae caelestium revelationum (Symphonie der Harmonie der göttlichen Weissagung). Sie beginnt damit im Jahre 1151, nachdem sie ihren eigenen Konvent auf dem Rupertsberg errichtet. Hildegard sah Musik als zugleich irdisch und himmlisch, und glaubte, dass sie zur Harmonie nicht nur zwischen Stimmen und Instrumenten führe, sondern auch die körperlich-seelische Harmonie des Menschen selbst, und darüber hinaus die Harmonie des Menschen mit dem Universum ermögliche. Nur durch Musik, so Hildegard, kann der paradiesische Einklang, der einst herrschte, und den sie wieder herbeisehnte, zur erfahrbaren Realität hier auf Erden werden. Die Musik Hildegards war weder an herkömmliche Musiktheorie noch an Regeln des kirchlichen Chorals, sondern einzig an die himmlische Offenbarung der symphonialen Harmonie gebunden. Dennoch, oder vielleicht deswegen, sind ihre Lieder sehr kunstvoll und wollen auch heute als Ausdruck einer Frau, die sich selbst als "Instrument Gottes" verstand, gesungen, gehört und studiert werden.

Die Symphonia ist ein Zyklus, dem ein strikter hierarchischer Aufbau zugrunde liegt. Er beginnt mit Gesängen an die Trinität, allerdings nicht in der gewohnten Ordnung Vater-Sohn-Heiliger Geist. Statt dessen widmet Hildegard die ersten Gesänge Vater und Sohn. Darauf folgen zunächst Lieder für Mutter (Maria) und Sohn, bevor der Heilige Geist besungen wird.

Danach schreibt sie für Apostel, Patriarchen und Propheten, gefolgt von Gesängen für Schutzpatrone. Anschließend schreitet sie zu Menschen, nämlich zu Jungfrauen, Witwen und Unschuldigen. Es folgt eine besondere Liturgie für die Heilige Ursula, und der Zyklus schließt mit vier Gesängen an die Kirche im Allgemeinen. In der jüngeren Quelle (R) folgt das liturgische Drama Ordo Virtutum (Spiel der Kräfte), das einer Vision der menschlichen Seele im Kampf zwischen Gut und Böse gleichkommt.

Ausgehend von der Musik selbst und begründet in Hildegards Schriften, die oft das Symbolhafte der Musik herausstellen, wissen wir, dass die Musik einen besonderen Platz in ihrem Denken und Leben einnimmt. Sie empfindet die menschliche Seele an sich als symphonisch. Die Seele (Mikrokosmos) aber ist im Idealfall im Einklang mit dem Universum (Makrokosmos). Hildegard ersehnt und erblickt den gesamten Kosmos als eine Harmonie auf großer Ebene. Dies ist ihre Vision, und sie wird erreicht im 'weltlichen Exil' durch die Kunst im Allgemeinen und durch die Musik im Besonderen. Das Singen allein ermöglicht es dem Menschen, die Seele in Einklang mit dem Körper zu bringen. Die so harmonisierte Körper-Seele-Einheit kann ihren Platz im Universum einnehmen.

Obwohl dem/r heutigen HörerIn diese Art der geistigen und geistlichen Vertiefung sicher im gewissen Grade fremd bleiben muss, so empfinden doch viele die Zeitlosigkeit und Kraft von Hildegards Musik. Durch sie wird nicht nur ein Fenster in die tiefe historische Vergangenheit des Mittelalters geöffnet, sondern der moderne Mensch kann durch Hören, Singen und Kontemplation mit Hilfe von Hildegards Musik an ihrer Spiritualität teilnehmen. Vielleicht führt die heutige Faszination von der Seherin des zwölften Jahrhunderts zu einem Neubedenken der untrennbaren Einheit von Kunst und Spiritualität. Das Empfinden dieser untrennbaren Einheit ist nicht auf Hildegard beschränkt, sondern liegt dem zahlreicher Künstler(innen) in der Geschichte, wie in unserer eigenen Zeit zugrunde.



Marianne Richert Pfau
Letzte Änderung am 1. Mai 2004