Lebenslauf von Johann Caspar Kerll

Bild von Johann Caspar Kerll Kerll entstammte einer ev.-luth. Musikerfamilie. Sein Vater war der aus Joachimstal (Böhmen) vertriebene Organist und Orgelbauer Kaspar Kerll, der seinem Sohn vermutlich auch den ersten Musikunterricht erteilt hat. In jungen Jahren bereits kam Kerll nach Wien und fand in dem Erzherzog Leopold Wilhelm, dem Bruder des Kaisers Ferdinand II., einen einflussreichen Gönner und Freund. Dieser veranlasste zunächst Kerlls Ausbildung bei dem Hofkapellmeister Valentini und schickte ihn dann 1637 zu weiteren Studien nach Rom, wo er von Carissimi, vielleicht auch von Frescobaldi, unterrichtet wurde. In die römische Studienzeit fällt auch die erste Veröffentlichung einer Komposition Kerlls, einer "Toccata sive Ricercata", in der von Athanasius Kircher 1650 herausgegebenen Sammlung "Musurgia universalis". Die Echtheit dieser Komposition ist allerdings umstritten.

Spätestens in dieser Zeit ist Kerll auch zum kath. Glauben übergetreten, unabdingbare Voraussetzung für seine weitere Karriere im süddt.-österreichischen Raum. Erzherzog Leopold Wilhelm, seit 1647 Statthalter der Niederlande, gewährte Kerll ab ca. 1651 eine Stelle als Organist der Brüsseler Hofkapelle, wobei es fraglich ist, ob er diese Stelle überhaupt je angetreten hat, da die Kapelle schon 1656 aufgelöst worden ist. Seit diesem Jahr aber ist Kerll nachweislich in München anzutreffen, wo er am bayerischen Hof zuerst als Vizekapellmeister, nach dem Tode des Hofkapellmeisters J. J. Porro als dessen Nachfolger angestellt war. In dieser Position hatte er vielfältige Aufgaben zu bewältigen. Da die Kurfürstin der noch jungen Kunstgattung Oper sehr viel Interesse und Aufmerksamkeit entgegenbrachte, 1653 war in München das erste Mal eine Oper, "L'arpa festante" von G. B. Maccioni, zur Aufführung gelangt, bekam er den Auftrag, Opern zu komponieren. Im Jahre 1657 wurde seine erste Oper, "Oronte", anlässlich der Eröfnung des neuen Residenztheaters aufgeführt. Die Musik zu dieser sowie zu neun weiteren von ihm stammenden Opern hat sich nicht erhalten. Lediglich die Textbücher zu vier seiner Opern sind bekannt. Daneben schrieb Kerll Musikstücke zu Jesuitendramen, ein Genre, das sich damals großer Beliebtheit erfreute. Von diesen hat sich ein einziges Werk, das 1677 in Wien entstandene Werk "Pia et fortis mulier", erhalten. Weiters hatte er Festmusiken und Ballette für die verschiedensten Gelegenheiten und Anlässe zu schreiben und zu leiten.

Neben diesen weltlichen Verpflichtungen galt das Hauptinteresse Kerlls der Kirchenmusik. Er machte München mit dem in Italien zuerst entwickelten "stile concertato" bekannt und komponierte Messen, geistliche Konzerte u.v.a. Die 1669 in München gedruckte Sammlung "Delectus sacrarum cantionum" gibt einen guten Überblick über diese Richtung seines Schaffens. Während eines Aufenthaltes in Regensburg wurde er von dem dort anwesenden Kaiser Leopold I., der seine Kunst bewunderte, in den Adelsstand erhoben. Da Kerll neben seiner künstlerischen Fertigkeit auch gute organisatorische Fähigkeiten besaß, hatte er in seinem Amt viele Freiheiten. Trotz der hervorragenden und gut bezahlten Stellung und des hohen Ansehens, das Kerll in München genoss, gab er diese Position im Jahre 1673 überraschend auf und ging nach Wien. Man nimmt an, daß Kerll auf diese Weise die Konsequenz aus Intrigen durch italienische Musiker in der Hofkapelle gezogen hat. In Wien scheint er zunächst ohne feste Anstellung gewesen zu sein, doch bezog er seit 1675 eine kaiserliche Pension und wurde 1677 (definitiv erst ab 1680) Hoforganist neben A. Poglietti. Kerlls Orgelspiel, besonders die Orgelimprovisation, wurde weithin gerühmt. Auch als Lehrer für Tasteninstrumente besaß er schon seit seiner Münchner Zeit einen guten Ruf. Bedeutende Schüler in München waren A. Steffani und F. X. A. Murschhauser. Dass J. Pachelbel, J. J. Fux und G. Reutter d.Ä. zu seinen Schülern in Wien gehört haben sollen, ist bloße Vermutung. Im Jahre 1679 hielt sich Kerll wegen der in Wien grassierenden Pest zusammen mit der kaiserlichen Kapelle in Prag auf. Dort ist vermutlich seine Frau gestorben. Zum glücklichen Ausgang der Belagerung Wiens durch die Türken im Jahre 1683 komponierte Kerll die Gedenkmesse "In fletu solatium". Bald danach kehrte er nach München zurück. Über das letzte Lebensjahrzehnt ist nichts weiter bekannt. Sein Grab befand sich in der Augustinerkirche in München.

Das Schaffen Kerlls weist zwei Schwerpunkte auf. Seine Bedeutung gründet sich zunächst auf sein Wirken als Lehrer für Tasteninstrumente und als Komponist von Stücken für diese Gattung. Die 1686 in München erschienene Sammlung "Modulatio organica" wurde zum Vorbild für eine ganze Reihe ähnlicher Veröffentlichungen durch J. Speth, F. X. A. Murschhauser, Th. Muffat u.a. Die Quellenlage in diesem Bereich erweist sich aber als äußerst schwierig, da Kerll mit dem gleichzeitig in Wien als Hoforganist wirkenden A. Poglietti freundschaftlich verbunden war und daher gemeinsam mit diesem Werkausgaben veranstaltete, wobei vielfach nicht mehr festzustellen ist, welche der darin enthaltenen Werke nun tatsächlich von Kerll stammen. Wohl aus diesem Grund hat er später, als einer der ersten Komponisten überhaupt, ein thematisches Werkverzeichnis seiner Kompositionen für Tasteninstrumente angelegt. Trotzdem lassen sich die originalen Fassungen zahlreicher Werke nicht mehr mit Sicherheit ermitteln. Die Anregungen, die von Kerlls Kompositionen für diese Werkgattung ausgingen, waren bedeutend. Ihre Wirkung reichte bis G. F. Händel und J. S. Bach.

Der zweite Schwerpunkt seines Schaffens lag auf dem Gebiet der Kirchenmusik. In diesem Bereich gehörte Kerll zu den Vertretern der süddt.-österreichischen Richtung, die ihre Anfänge in den Werken der Komponisten Johann Stadlmayr, Christoph Straus und Giovanni Valentini, einem Lehrer Kerlls, hatte und in gerader Linie bis hin zu Joseph Hadyn und W. A. Mozart führte. Hauptkennzeichen dieser Richtung sind die Verwendung eines Orchesters in den Messkompositionen, das meist noch parallel zu den Singstimmen geführt ist, 4-st. Satz, stärkeres Hervortreten der Soli gegenüber den Tuttistellen und deutlichere Gliederung der einzelnen Satzteile. Kerll nimmt in dieser Entwicklung eine Schlüsselrolle ein, da er Anregungen der italienischen Musiktradition mit aufgenommen und verarbeitet hat. So ist ihm v. a. die Bereicherung der Kirchenmusik durch die Einführung der "Geistlichen Konzerte" zu verdanken. Insgesamt ist das kirchenmusikalische Schaffen Kerlls durch einen freieren Ton bestimmt, der das liturgische Geschehen feierlicher und zugleich persönlicher gestaltet. Bereits im 18. Jahrhundert geriet das Werk Kerlls in Vergessenheit.



Hans-Josef Olszewsky
[mit Ergänzungen von Renate Schreiber]
Letzte Änderung am 24. August 2009