Magret Wolf (geb. 1960)

Kirisk - Der Junge und das Meer

Allgemeine Angaben zur Oper:

Titel: Kirisk - Der Junge und das Meer
Titel englisch: Kirisk - The Young Man and the Sea
Anlass: Auftragswerk des Pfalztheaters Kaiserslautern
Uraufführung: März 2000 in Kaiserslautern (Pfalztheater)
Besetzung: Soli und Orchester
Spieldauer: ca. 150 Minuten
Bemerkung: Magret Wolf hat sich für ihre Oper ein ungewöhnliches Thema ausgesucht. Drei Robbenjäger und ein Junge treiben im dichten Nebel auf dem Ochotskischen Meer. Das Trinkwasser wird weniger und bei den Männern kommt es nacheinander zum Suizid, um dem Jungen eine fragwürdige Überlebenschance zu geben. Abseits jeglicher Folklore dringt das Geschehen in die mystischen Bereiche der Fischfrau, der Blauen Maus und des Vogels Agukuk vor und erzählt von dem ewigen Kampf des Menschen mit den Naturgewalten.

Die Komponistin schuf aus der Erzählung des kirgisischen Dichters Tschingis Aitmatow ein Libretto, welches den Inhalt der Novelle in Prosaform dichterisch nacherzählt, um dem ausgiebigen instrumentalen Anteil der Oper ein Fundament zu bieten. Die sorgfältig ausmultiplizierten Effekte folgen dem Stimmungsgehalt der wechselnden Situationen klangmalerisch unter erheblichen Einsatz des Schlagzeugarsenals. Eingehende Kenntnis des Librettos hilft dem Betrachter das Handlungsgeschehen auszuloten, welches nicht prinzipiell durch Gesang gekennzeichnet ist. Der deutschsprachige Wortlaut ist der nomadischen Sprachmelodie angepasst, bleibt in der Melodienführung aber immer textverständlich. Inhaltlich sind die Dialoge äußerst knapp gehalten und begleiten das überwiegend orchestrale Geschehen oder lockern es auf.

Mit der Oper Kirisk gelang der Komponistin zum Auftakt des dritten Jahrtausends der ganz große Wurf. Einem geschickten Beleuchter und einer intelligenten Lichtregie dürfte es keine Schwierigkeit bereiten, das ungewöhnliche Geschehen auf der Bühne ansprechend zu visualisieren. Das Pfalztheater Kaiserslautern hatte die Ehre, sich mit einer anspruchsvollen Oper von gewaltigen geistigen Dimensionen in der Musikgeschichte der Gegenwart einen angemessenen Platz zu sichern.

Zur Oper:

Art: Oper in drei Akten
Libretto: Magret Wolf nach der Novelle "Der Junge und das Meer" des kirgisischen Dichters Tschingis Aitmatow
Sprache: deutsch
Ort: Ostküste Sibiriens
Zeit: zeitnah

Personen:

Kirisk: ein Junge vom Stamm der Nivchen (Sopran)
Emraijin: sein Vater (Bariton)
Mylgun: ein Robbenjäger (Bariton)
Organ: Senior unter den Robbenjägern (Bass)
Weitere: Dorfbewohner

Handlung:

Prolog: Entlang der Ochotskischen Seeküste dringt das gewaltige Rauschen des Meeres durch die Nacht und begleitet den Schlaf der Bewohner des Dörfchens, welches von dem Volkstamm der Nivchen bewohnt wird. Die Brandung stürmt gegen die Klippen und immer wieder werden die Wellen zurückgeworfen. So tobt seit Anbeginn der Kampf der Elemente und wird niemals enden.

Am Urbeginn der Zeiten gab es keine Erde, nur Wasser - nichts als Wasser. Woge um Woge rollte an und verlor sich dann wieder, um sich neu zu bilden. Der Schöpfungsmythos hat sich im Kollektivbewusstsein der Bewohner tief verankert. Der Chor berichtet von der Ente Luwre, der es gelang, Festigkeit zu schaffen. Ihr Blick schweifte über die Weite des Wassers und sie sah nichts, aus dem sich ein Nest bauen ließe. Sie schrie, denn sie befürchtete, ihr Ei zu verlieren, ohne zuvor einen festen Platz gefunden zu haben. In höchster Bedrängnis rupfte sie sich Federn aus ihrem Kleid, baute daraus ein Nest und ließ es auf den Wellen schaukeln. Das kleine Nest war die Urzelle festen Bodens. Schöpfergottheiten sorgten dafür, dass die Substanz sich veränderte und vermehrte. Zu den Tieren gesellten sich Menschen. Sie lernten Skilaufen und ein Boot zu rudern. Das Leben auf dem Lande war hart. Schicksalhaft stand der Erdbewohner zwischen den Elementen. Das Meer liebte ihn nicht, aber der Mensch zwang es, ihn mit seinem Reichtum zu ernähren. Der Kampf gegen das Meer wurde zum Lebensinhalt.

Kirisk, der Held der Geschichte, fand keinen Schlaf in dieser Nacht, denn er spürte, dass ein neuer Abschnitt seines Lebens beginnen würde. Seine Sinne registrierten den Anprall der Wogen gegen das Riff. Angestrengt lauschte er in die Nacht.
1. Akt: Erste Szene

Die Sonne steht schon hoch zwischen den Pappeln, als das Kajak aus der „Bucht des scheckigen Hundes“ hinausgleitet und Kurs auf die offene See nimmt. Im Boot befinden sich drei Männer und ein Junge. Es ist sein großer Tag, denn es ist das erste Mal, dass Kirisk zum Robbenfang mitgenommen wird. Für ihn bedeutet es, dass er zukünftig zu den Erwachsenen gehören wird. Die gesamte Siedlung ist informiert, dass ein zukünftiger Ernährer auf seine tragende Rolle im Clan vorbereitet wird. Als Mann geboren, muss er lernen, wie mit dem ungebärdigen Meer Freundschaft zu schließen ist. Das Meer lernt ihn kennen und er hat das Meer zu respektieren. Erfolg und Misserfolg wird es bescheren.

Der Senior unter den Männern ist Organ, er bedient das Steuerruder und zieht hin und wieder gemächlich an seiner Pfeife. Schon oft ist er auf das Meer hinausgerudert. Dies könnte seine letzte Ausfahrt sein! Die beiden übrigen - die besten Jäger des Clans - sind Emraijin, der Vater des Jungen, und Myglun, ein naher Verwandter. Mit kräftigen Ruderschlägen lenken sie das Boot auf das offene Meer. Myglun hatte schon gemeint, dass Kirisk nicht mitkommen würde, weil die Mutter das Söhnchen nicht freigibt. Kirisk empört sich – nicht mit ihm! Aber Kirisk, Myglun hat es doch nur scherzhaft gemeint, über irgend etwas muss man auf dem Wasser schließlich reden.

Der Kajak nimmt Kurs auf die Inseln, die der Küste vorgelagert sind, um Robben zu jagen. Es wird eine Zweitagestour werden, und man hat ein Fässchen Trinkwasser mitgenommen, dazu Dörrfisch als Proviant. Kirisk ist die Aufsicht anvertraut, er darf den Proviant auch zum Boot transportieren. Viel zu früh ist er in Gedanken schon bei der Rückfahrt. Er stellt sich vor, wie das Dorf den in der Männergesellschaft Angenommenen feiern wird. Es bedeutet das Ende seiner Kindheit. Mit Liedern wird man die Großzügigkeit des Meeres rühmen. Fische aller Art bevölkern es und in des Meeres unergründlicher Tiefe haust noch sonstiges Getier. Den starken und kühnen Jäger wird man loben, vorausgesetzt, die Ausbeute war lohnenswert. Das Tamtam der Trommeln erdröhnt unter ihren Schlägen und der allwissende Schamane wird mit der Erde und dem Wasser seinen Dialog führen. Wo schwimmt die große Fischfrau? Der stärkste der Männer soll auf sie zuschwimmen und sich mit ihr vereinen.

Über Kirisk wird der Schamane auch sprechen. Eine große Nachkommenschaft soll er zeugen und das Glück möge immer an seiner Seite sein. An Beute soll es nie fehlen und man wird sie gerecht verteilen. Der Schamane wird Kirisks Schicksal einem Stern anvertrauen, der sein individueller Begleiter sein und über ihn wachen wird. Fasziniert schaut er auf das Wasser, wie es sich bewegt und wie unergründlich seine Tiefe ist. Über ihm die Schwerelosigkeit der wandernden Wolken! Die „Bucht zum scheckigen Hund“ ist seinen zurückschauenden Blicken entschwunden. Eine leichte Unruhe erfasst den Jungen. Instinktiv spürt er die Gefahr, die prinzipiell vom Meer ausgeht.

„Der scheckige Hund ist nach Hause gegangen“, beginnt der Vater den Dialog, nachdem er das Mienenspiel des Jungen beobachtet hat. „Er wird wiederkommen, wenn wir zurückkehren“ erwidert Kirisk. Ist ihm nicht ein wenig bange, will Organ wissen. Zuerst meint man immer, dass es einem nichts ausmacht, aber dann wird es doch ein bisschen mulmig. Tapfer behauptet Kirisk, keine Angst zu haben. Gut so! Er soll die beiden Männer auch fragen, wie sie das erste Mal erlebten. Organ, von dem Jungen ehrfurchtsvoll mit Atkyschch angeredet, unterweist den Jungen in Navigation. Wenn der Wind sich dreht, wo ist dann der „scheckige Hund“ geblieben? Kirisk gibt klare bestimmte Antworten. Nun soll der Junge ihm noch sagen, wonach er die Richtung bestimmt, wenn nichts anderes, als Wasser zu sehen ist. Nun, Kirisk hat doch Augen! Welche Augen? Wo hat er sie? Kirisk weiß es nicht, entweder im Kopf oder im Bauch! Wo ist die Küste? Wo ist der scheckige Hund? Der Wald? Das Flüsschen? Die Häuser? Die Hühner? Die Mutter? Das Schwesterchen? Wo ist Musluk, seine Musluk?

Organ empfindet eine unerfüllte mystische Verbundenheit zur Fischfrau, die sich in drei Traumerzählungen in der Oper niederschlägt. Seinen Gedanken lässt er freien Lauf. (Zitat von M.W.: „Der Mensch im Boot, in dieser Welt ein Nichts! Aber dem Denken sind keine Grenzen gesetzt. Deshalb ist der Mensch geistig so mächtig wie das Meer, so endlos wie der Himmel. Wenn er stirbt, wird ein anderer seine Gedanken weiterdenken. Der Tod ist unentrinnbar. Sein Leben geht zur Neige. Alles löscht der Tod aus. Er wünscht sich, seine großen Träume würden bei ihm bleiben. Die Träume von der Fischfrau. Sie dürfen nicht verschwinden! Die große Fischfrau ist unsterblich, also auch die Träume von ihr. Warum sollte der Mensch nicht seine Träume hinübernehmen in die andere Welt, damit er ewig sieht, für alle Zeit.“)

Es ist Nachmittag geworden. Einige Male war die Sonne hinter Wolken verschwunden, um dann plötzlich wieder hervorzubrechen. Jedes Mal verfinsterte sich der Anblick des Meeres und wurde düster. Tauchte die Sonne wieder auf, war das Meer mit unendlich vielen Lichtpünktchen übersät, die das Herz wieder fröhlich stimmten. „Kleine Zitze“ heißt die Insel, die sich plötzlich zeigt und die sie ansteuern werden. Kirisk soll sich die Seite genau merken, an der sie anlegen, um wieder zurückzufinden zum „scheckigen Hund“. Wenn es finster ist, wird ihnen das Sternbild der Ente Luwre den Rückweg zeigen.

Zweite Szene

Organ bleibt beim Boot zurück und behält es im Auge. Die beiden Männer und der Junge bewegen sich behutsam auf den Lagerplatz der Robben zu. Niemals im Leben wird Kirisk diesen herrlichen Frühlingstag vergessen. Diese kalte steinige Insel mit den dunkelrötlichen zerklüfteten Felsbrocken auf der noch nicht abgetauten Erde übt eine stille Faszination auf den Jungen aus. Die kleine Robbenherde liegt ganz in der Nähe und hat noch keine Witterung aufgenommen. Myglun und der Vater ducken sich in einer Mulde und bereiten sich auf den ersten Schuss vor. Es dünkt Kirisk, dass selbst der Himmel auf den ersten Schuss wartet.

Einmal mehr drehen sich die Gedanken des Erwartungsvollen um Ruhm und Ehre, die seiner zu Hause harren. Seine Eitelkeit setzt ihm zu! Wie stolz wäre die Mutter, wenn sie jetzt neben dem zukünftigen Ernährer der Sippe stünde, um seine Anstrengungen zur Kenntnis zu nehmen. Mit Musluk wird er zukünftig nicht mehr spielen, denn jetzt ist er kein Spielkamerad mehr, sondern ein großer Jäger. Vielleicht sieht sie jetzt vor ihrem inneren Auge, wie er fern vom „scheckigen Hund“ an einer unbekannten tosenden Küste entlang läuft.

Dritte Szene

Die Arbeit ist getan. Ein Tier wurde mit einem gezielten Schuss erledigt und mit vereinten Kräften ins Boot gezerrt. Die „Kleine Zitze“ ließ man einsam und verwaist zurück. Der Mittleren der drei Inseln gilt nun die Aufmerksamkeit. Aber die Männer müssen sich mächtig in die Ruder legen, um noch vor Anbruch der Dunkelheit an Land gehen zu können. Ringsum nichts als Wasser und Neuland nicht in Sicht. Der Seegang wird plötzlich stürmischer, der Wind schlägt um und die Wellen bewegen sich in eine andere Richtung. Das Boot wird kräftig geschaukelt. Der Himmel hat sich abrupt verändert. Das bedeutet nichts Gutes. Dunstschwaden tauchen plötzlich auf und keiner weiß, woher sie plötzlich kommen. Sie wirken wie der Rauch von entfernten Waldbränden. Organ ist sichtlich beunruhigt. Obwohl sein Leben an meteorologischen Wahrnehmungen reich ist, macht er die Erfahrung, dass er noch nicht ausgelernt hat. Mit jedem Ruderschlag erwartet man nun sehnsüchtig das Auftauchen der „Mittleren Zitze“ aus den Fluten. Die Sonne schickt sich an, am Horizont zu verschwinden und wirft einen rötlichen Schimmer. Kirisk hat Durst! Der Verzehr der Leber hat alle durstig gemacht und man gönnt sich ein Schlückchen aus dem Fässchen.

Kirisk hat es zuerst gesehen! Das drohende Tosen einer gewaltigen Welle bricht unter dem Nebelschleier hervor. Das Brausen schwillt an und das aufgewühlte Wasser nähert sich dem Boot. Die Ruderer manövrieren, damit die Woge das Fahrzeug nicht von der Seite erfasst und umwirft.
Die Welle rast durch und hat eine aufgewühlte See im Gefolge. Unheil verheißend rückt eine Nebelwand näher. Sie stürzt herab wie eine Lawine und versenkt alles in Dunkelheit. Nun gibt es weder Meer, noch Himmel, noch Boot. Nicht einmal gegenseitig kann man sich erkennen. Befinden sie sich in einer anderen Welt? Das Meer ist in Aufruhr. Das Boot wird hochgerissen und in die Schlucht zwischen zwei Wellenbergen hinabgestoßen und erneut hochgewirbelt. Das Fahrzeug ist nicht mehr steuerbar. Entscheidungen, was als Nächstes unternommen werden muss, erübrigen sich. Die Elemente übernehmen die volle Befehlsgewalt. Es geht nur noch darum, auf gut Glück das Boot über Wasser zu halten. Wie lange wird der Spuk noch dauern? Organ ruft Kirisk zu, sich an ihm festzuhalten.

Der Sturm wird immer wütender. Unaufhaltsam tragen die Wellen das Boot in die dunkle Nacht. Es ist ein ungleicher Kampf zwischen Mensch und Natur. Es bleibt nur die verzweifelte Hoffnung, dass der Sturm sich urplötzlich legt, wie er begonnen hat. Einmal war es fast so, als ob die Hoffnung sich erfüllen würde. Doch dann brachen in der Dunkelheit die Wellen wieder voll über sie herein. Der Kajak wirbelte zwischen den Wogen und wurde rücksichtslos hin- und her geschleudert.

Das Boot füllt sich langsam mit Wasser und sackt mehr und mehr ab. Organ sagte zu Kirisk, dass er sich in dieser Situation auf nichts und niemanden verlassen kann. Er soll das Trinkwasserfässchen fest umklammert halten. Kirisk weint laut vor Angst, doch niemand hat Zeit, sich um den Jungen zu kümmern. Keiner hörte ihn! Er kommt sich grenzenlos verlassen vor und verkriecht sich unter dem Hecksitz. Dass Fässchen hält er fest umklammert. Es ist ihm klar, dass es in dieser Situation nichts Wichtigeres zu tun gibt. Myglun rudert wie wahnsinnig, während Emraijin und Organ damit beschäftigt sind, Ballast abzuwerfen. Ballast ist eigentlich alles, die Waffenausrüstung, die Harpune, die Teekanne, die Leinen und schließlich auch die Beute, deretwegen sie eigentlich ausgefahren waren. Ein hartes Stück Arbeit, die schwergewichtige tote Robbe wieder den Fluten zurückgeben zu müssen. Man brüllt, man flucht und man schimpft. Aber das Boot ist sichtlich erleichtert, nachdem der schwere Brocken ins Wasser geglitten ist. Vielleicht war es die Rettung!
2. Akt: Erster Tag

Das Unwetter hat sich gelegt. Man musste nicht mehr kämpfen und war irgendwann eingeschlafen. Der große Nebel konnte sich unumschränkt und reglos ausbreiten. Organ erwacht und muss sich erst einmal besinnen, wo er überhaupt ist. Schließlich erkennt er die Konturen des Bootes. Myglun und Emraijin liegen erschöpft hinter ihren Rudern. Das Unwetter und die Anstrengung hatten sie arg mitgenommen. Das Wasserfässchen war Kirisk vor die Füße gerollt. Der Junge zitterte vor Nässe und Kälte. Die Umgebung war in Reglosigkeit erstorben. Der Alte schlief wieder ein und wird nun von Kirisk schließlich aufgeweckt. Er hat Durst und will trinken. Organ bietet ihm an, sich zu ihm zu setzen, damit er es etwas wärmer habe. Er kündigt an, dass von nun an er entscheiden wird, wann und wie viel getrunken wird. Emraijin gibt der Hoffnung Ausdruck, dass man sich vielleicht dem Land nähere. Myglun setzt dagegen, dass es sich auch genau umgekehrt verhalten könne. Hoffentlich wird der Nebel sich bald zerstreuen, damit man die Sterne sehen kann. Man hätte etwas, an was man sich halten könnte. Der Wind soll endlich kommen und den verfluchten Nebel verjagen.

Der weise Organ hatte von dem gesalzenen Dörrfisch nichts gegessen, so wurde er von Durst auch nicht in dem Maße gequält wie die anderen. Jeder genehmigt sich nur zweimal einen Schluck, aber jedes Mal wird der Durst größer als vorher. Erneut legt sich die eiskalte Nacht auf die Schiffbrüchigen. Hoffnungslosigkeit erfasst die Männer. Kirisk verspürt einen unbändigen Drang, die Lieben zu Hause wiederzusehen.

Zweiter Tag

Am folgenden Morgen ist der Nebel etwas durchlässiger geworden. Das Wasser ist reglos wie Quecksilber. So etwas hat Kirisk noch nie gesehen. Kein Lüftchen bewegt sich. Man kann die Konturen der Gesichter ausmachen und auch die Augen erkennen. Der Junge beobachtet, dass sich die Gesichter der Erwachsenen unvorteilhaft verändert haben. Von Bartstoppeln überwuchert wirken die Gesichter grau und eingefallen. Die Augen liegen tief in den Höhlen. Der sonst selbstsichere Vater ist kaum wiederzuerkennen. Die Lippen wirken zerbissen und schwarz. Besonders hat es den alten Organ getroffen. Seine Haltung ist gebückt und der Hals scheint länger geworden zu sein.

Für jeden ist ein Schluck Wasser vorgesehen. Organ will nicht trinken. Aus Solidarität entscheidet Emraijin auch nicht trinken zu wollen. Auch Kirisk beabsichtigt, sich den anderen anzuschließen. Doch Organ argumentiert, dass er in seinem Leben schon genug Wasser getrunken habe, aber Kirisk noch ein Weilchen leben wird. Das Gefühl für Ehre und Aufopferung scheint bei dem Stamm der Nivchen größer zu sein, als der Selbsterhaltungstrieb.

Myglun fragt, wohin er das Boot lenken soll. Hat es überhaupt Sinn, sich von der Stelle zu bewegen, wenn man die Richtung nicht weiß? In Myglun regen sich nun doch Zeichen der Aggressivität. Er will fahren, und wenn der verfluchte Kajak umkippt, werden die Fische etwas zu fressen bekommen. Myglun und Emraijin rudern wie verrückt ohne Ziel. Das Wasser rauscht und spritzt in die Höhe, bis die beiden erschöpft innehalten. Nebel vor ihnen, Nebel hinter ihnen! Ringsherum nichts als Nebel! Organ rät, in den Himmel zu schauen, ob ein Agukuk vorbeifliegt, denn in der Richtung, in welche er abbiegt, liegt Festland. Myglun bringt den Einwand, was sein wird, wenn sie sich nicht mehr zwischen Insel und Küste befänden. Dann wird man auch keinen Agukuk sehen! Myglun verliert die Nerven, flucht und schimpft, weil der Schamane keinen Wind schickt, wirft dann das Ruder ins Wasser und beginnt hemmungslos zu weinen. Alle schweigen! Emraijin versucht den Gefährten zu beruhigen. Kirisk will von Organ wissen, weshalb die Ente im Nebel zu den Inseln fliegen kann. „Sie hat Augen, die durch den Neben hindurch sehen“. Solche Augen hätte Kirisk auch gern. Organ versucht den Jungen aufzumuntern. Am Abend verteilt der Alte nochmals Wasser. Er selbst nimmt wieder keinen Schluck. Er sitzt auf seiner Heckbank entrückt wie ein einsamer Falke. Offenbar ist er an dem Punkt angekommen, wo die Qualen des Durstes ihn nicht mehr erreichen können. Wo schwimmt die große Fischfrau?

Kirisk erinnert sich an die Situation, als er einmal im Fieber lag und trinken wollte. De Mutter sagte zu ihm, dass er die kleine Blaue Maus bitten solle, damit sie ihm Wasser bringen möge. Endlich kam sie gelaufen. Sie huschte über seinen Körper, sein Gesicht und seinen Hals und verschaffte ihm durch ihre Bewegung Kühlung. Blaue Maus, gib Wasser!

Emraijin ahnt, was im Innern Organs vorgeht. Als kluger Mann soll er sich überlegen, was er vorhat. Sie sitzen alle in einem Boot, und alle sollten das gleiche Schicksal erleiden. Organ ist der Ansicht, dass niemand seinem Schicksal entrinnt, aber er kann es beschleunigen oder verzögern. Das Leben der anderen kann von einem Schluck Wasser abhängen, wenn die Küste urplötzlich in Sichtweite kommt. Ein Weilchen könnten die anderen sich noch halten. Organ wartet die Nacht ab, um sein Vorhaben auszuführen.

Dritter Tag

Kirisk wacht auf und ruft: „Atkytschch, ich will trinken“. Kirisk soll nicht so schreien, „Atkytschch ist nicht mehr da“. „Wo ist er?“ „Auf dem Weg zur Fischfrau“ versucht der Vater ihn zu beruhigen. Er habe zum Abschied gesagt, dass Kirisk Wasser bekommen soll, aber zuerst müsse er mit Weinen aufhören. Die Blaue Maus soll Wasser bringen! Jetzt sind sie nur noch zu dritt im Boot. Die Zeit verrinnt. Mal treibt das Boot von allein, mal kommt es zum Stillstand.

Auch Myglun erfasst Todessehnsucht. Der Nebel soll verschwinden, denn einmal möchte er noch den Sonnenstrahl sehen. Kirisk kann nicht glauben was er sieht. Myglun beugt sich über die Bordwand, schöpft mit der Kelle Meerwasser und trinkt es. Emraijin beobachtet es und will es ihm verwehren. Doch Myglun warnt ihn, er solle ihm nicht zu nahe kommen, sonst würde er ihn erschlagen. Dem Unbesonnenen sieht man an, dass er die salzige Brühe mit Widerwillen die Kehle passieren lässt, seine Ärmel werden nass, und es rieselt durch das geöffnete Hemd über seinen Körper. Dann wirft er sich auf den Boden und krümmte sich vor Schmerzen, weil der Magen rebelliert. Emraijin ist ratlos, nimmt das Ruder und steuert es in den Nebel irgendwohin. Myglun liegt auf dem Boden, mal ist er still, dann schüttelt es ihn wieder. Innerlich droht er zu verbrennen. Ein paar gequälte Abschiedsworte an Vater und Sohn, nachdem er gedroht hat, das Boot umzukippen. Dann wälzt der Todgeweihte sich über die Bordkante und stürzt ins Meer. Das Boot legt sich zur Seite, um aber bald in seine ursprüngliche Lage zurückzufinden. Kirisk fleht umsonst: „Ach Myglun, bitte nicht!“ Bald hat der Nebel ihn verschluckt. Man hört den letzten Schrei des Ertrinkenden und dann herrscht Stille, als ob nichts geschehen sei. Myglun! Myglun! Emraijin kehrt mit dem Boot noch einmal zurück, aber es ist schwer, die Stelle auszumachen, wo Myglun ertrunken ist.

Nun sind Vater und Sohn allein. Beide weinen und kommen sich unendlich verlassen vor. Der Tag vergeht. Der Nebel saugt sich mit der abendlichen Feuchtigkeit voll. Ein einsames Boot kreist auf dem Wasser. Emraijin bietet dem Jungen zu trinken an und verschließt das fast leere Fässchen wieder mit dem Stöpsel. Nun muss auch der Junge das für sein Alter viel zu schwere Ruder bewegen. Da man die Richtung nicht kennt, hat die Übung lediglich therapeutischen Wert.

Emraijin fühlt, dass es nun an ihm sein wird, das Boot zu verlassen. Heftige Zweifel quälen ihn, ob es korrekt sei, den Jungen allein im Boot zurückzulassen. Vielleicht gibt es ein Fünkchen Hoffnung, dass es ihm vergönnt sein wird, den Nebel zu bezwingen und die Fischfrau ihn an die „Küste des scheckigen Hundes“ zurück geleiten wird. Andernfalls würde er im dunklen Nebel in völliger Einsamkeit an Hunger und Durst zugrunde gehen. Die Blaue Maus soll kommen und Wasser bringen! Wie soll Emraijin dem Jungen erklären, dass er sich seinetwegen opfern wird. Bald wird es völlig finster. Pechschwarze Nacht breitet sich aus und das Boot schaukelt auf der Stelle. Vater und Sohn verbringen die Nacht eng aneinander gepresst auf dem Boden des Bootes. Schlaf finden sie nicht, sondern grübeln, wie lange das Schicksal noch zögern wird, um ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Emraijin ruft sich den Tag ins Gedächtnis zurück, an dem Kirisk geboren wurde und erinnert sich der Zeit seiner Kindheit.
3. Akt: Vierter Tag

Kirisk erwacht und merkt, dass jemand ein Kleidungsstück auf seinen Körper gelegt hat, welches ihm Wärme gibt. Er stellt fest, dass es das Fellhemd des Vaters ist. Doch der Vater ist nicht mehr im Boot. Der einsame Schrei des Entsetzens und des Schmerzes gellt durch den stillen Morgen. War es tatsächlich richtig, dass der Vater freiwillig aus dem Leben schied und seinen Jungen allein zurückließ? Das Vertrauen in das Schicksal hätte vielleicht doch so groß sein sollen, dass es beide am Leben lässt oder beide dem Untergang weiht. Allein zurückgelassen zu werden kann als Ursache ausreichen, das Leben auszuhauchen. Nun, der Vater hat in seiner Verzweiflung anders entschieden. Wahrscheinlich hat er seine Hoffnung in die mystische Fischfrau gesetzt, die wenigstens dem Jungen zur Hilfe kommen wird. Kirisk gleitet auf den Boden des Bootes zurück und hält die Augen krampfhaft geschlossen. Vorwürfe macht er sich! Wäre er nicht eingeschlummert, hätte er sich an den Vater festklammern können, um ihn am Verlassen des Bootes zu hindern.

Gegen Mittag haben sich die Nebel ein bisschen gelichtet, aber noch immer liegt eine gewaltige Dunstmasse über dem Ozean. Kirisk nimmt einen großen Schluck aus dem Fässchen. Jetzt reicht es nur noch für ein einziges Mal, den Durst zu löschen. Der Hunger hat sich gelegt. Kirisk fühlt im Magen nur ein dumpfes Gefühl des Schmerzes. Das Boot treibt steuerlos im Kreis, aber plötzlich hat sich zaghaft ein bisschen Strömung gebildet. Gegen Abend überfällt den zu Tode erschöpften erneut der Durst. Tränenüberströmt, am ganzen Leib zitternd, schläft er schließlich ein. Sogar im Schlaf spürt er wie der Durst ihn peinigt. Er trinkt den Rest des Fässchens fast leer, ohne sich dabei etwas zu denken. Die verklebten Lippen lösen sich und der Krampf in der Kehle auch. Die Hand hält er sich vor das Gesicht und erschrickt. Wahrscheinlich ist er zusammengeschrumpelt wie ein Erdhörnchen. Nun überlegt Kirisk ebenfalls, ob er sich nicht ins Meer stürzen sollte. Er robbt vorwärts, hat aber nicht mehr die Kraft, den Körper über den Bootsrand zu heben. Er liegt auf dem Boden und ruft nach seiner durststillenden Maus.

Vom Schaukeln des Bootes wacht Kirisk in der Nacht plötzlich auf. Über ihm leuchtet ein strahlender Sternenhimmel. Wolken eilen dahin, sogar der Mond lässt sich hin und wieder blicken. Der große Nebel ist in Fluss geraten und hat sich aus seiner Erstarrung gelöst. Vom Wind gejagt beginnt er, sich zu zerstreuen. Die Kraft nach den Rudern zu greifen hat er nicht mehr. Die Sterne zu deuten, hat er noch nicht gelernt, um zu wissen, wohin er hätte rudern sollen.

Die Strömung nimmt die Entscheidung ab. Das Boot schwimmt immer flinker mit dem Sog ohne Steuer und ohne Ruder. In weiter Ferne kann man erkennen, wo Meer und Himmel aufeinander treffen. Die Wasseroberfläche funkelt, wenn der Mond hin und wieder sein Licht gibt. Der Zauber verschwindet, wenn Wolken die Mondsichel bedecken. Kirisk weint vor Freude. So könnte er das Leben lieben! Wäre er doch mit dem Trinkwasser etwas sorgsamer umgegangen. Doch die Euphorie verschwindet bald wieder. Er trinkt den Rest des fauligen Wassers und legt sich an den Platz, wo zuvor Atkytschch gesessen hatte. Ihm ist nun alles egal - Kirisk erwartet den Tod.
Halb im Fieberwahn, halb im Schlummer döst er vor sich hin.

Plötzlich hört er über sich Flügelrauschen. Er zuckt zusammen. Es ist ein großer kräftiger Vogel, der seine breiten Schwingen schlägt. „Agukuk“ entfährt es seinen bebenden Lippen. Plötzlich wird er munter, nimmt das Steuerruder in die zitternden Hände und lenkt mit letzter Kraft die Bootsnase in die Richtung, welche der Vogel genommen hat. Der Wind soll nicht fortgehen! Er soll sein Bruder sein. Er wird ihn Organ nennen. Der Stern, der so hoch am Himmel steht, soll nicht erlöschen! Kirisk errät, dass er die Bootsspitze genau auf diesen Himmelskörper lenken muss und lässt ihn nicht mehr aus den Augen. Den hellen Stern nennt er Emraijin, nach seinem Vater. Der Junge spürt den Wind im Nacken. Die Wellen nennt er Myglun. Sie sollen nicht vom Weg abirren und ihn nicht im Stich lassen.

Fünfter Tag

Der Morgen graut. Die Sterne erlöschen. Der Stern Emraijin begleitet ihn noch eine Weile als heller weißer Fleck. Als letzter verlässt er das Himmelsgewölbe. Am Horizont geht die Sonne auf. Der Rückenwind verlässt ihn nicht. In weiter Ferne sieht er plötzlich einen Küstenstreifen. Am Meer entlang läuft der „scheckige Hund“. Der Wind Organ, die Wellen Myglun und der Stern Emraijin haben ihn heimgeleitet! In seinem Kopf dreht sich alles. Das Licht verschwimmt vor seinen Augen. Bewusstlos gleitet der Junge auf den Boden des Fahrzeuges.

Tschak, taschak... Huwah, huwah... stürmen die Wellen gegen die Klippen und zerschellen.
Letzte Änderung am 14. Dezember 2007
Beitrag von Engelbert Hellen

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